Beurteilung des Nächsten. (‏דון לכף זכות) Kapitel 20

In Gerechtigkeit richte deinen Nächsten. (III, 19, 15.)

§. 136. Was dieser Ausspruch dem Richter für Pflichten auferlegt, gehört unter Mischpotim (siehe Kap. 54.). Hier vernehmen wir daraus hohe wichtige Pflicht für jeden und fürs gewöhnliche Leben.

§. 137. Wie sind wir so rasch, den Nächsten zu beurteilen! Aus ein bloßes Gerücht hin, ohne ihn selbst gehört zu haben, ohne erst ruhig alle möglichen Seiten überdacht zu haben, werfen wir den Stein der Verdammung auf unsern Nächsten, und töten in unserm Gemüte die Achtung und Liebe, auf die er Anspruch hat.

§. 138. Nicht also wenn du den Inhalt dieses Ausspruchs sorgfältig erfüllst. Dann wirst du so lange die gute Meinung von deinem Nächsten bei dir aufrecht halten, bis dir unwiderleglich, und von keiner Seite entschuldbar, seine Schuld darliegt. Ja, selbst wenn du mit eigenen Augen ihn sündigen siehst, wenn glaubwürdige Zeugen seine Schuld bezeugen, — du bist nicht Richter, dir ist Liebe Gerechtigkeit hier, und in deiner Liebe finde er stets den treuesten Anwalt, der an seiner That, wo immer möglich, entschuldigende, oder doch mildernde Seiten aufsucht. »Sei bedächtig im Urteil! Beurteile jeden nach der guten Seite!« Das sind Aussprüche der Weisen, die Leben sichern und Heil. — Und wärest du siebenfältig betrogen worden, hättest dich hundertmal getäuscht: dennoch lasse nicht von dieser Lebensregel im Urteil. Besser Hundert zu gut beurteilt, als Einem im Urteil zu nahe gethan. Du müssest dir’s nie verzeihen können, auch nur Einen Menschen in Gedanken zu schlimm beurteilt zu haben. —