Abschnitt 15. Welche Sache das Gericht zuerst vornehmen müsse und über ein betrügliches Urteil

§ 1. Die Sachen, die zuerst beim Gericht eingegeben sind, haben den Vorzug, sie müssen zuerst vorgenommen werden; aber die Sache eines Gelehrten hat immer den Vorzug und man muss ihn auch soviel als möglich schonen. (Erscheint der Gelehrte selbst vor Gericht, so muss man seine Sache zuerst vornehmen, selbst wenn man schon mit einer anderen beschäftigt ist, damit er nicht vom Studieren zu sehr gestört werde.) Erscheint aber ein Verwandter des Gelehrten vor dem Gericht und man ist schon mit einer anderen Sache beschäftigt, so hat man nicht nötig einzuhalten; sonst aber muss man der Ehre des Gelehrten wegen seine Sache zuerst vornehmen.

§ 2. Sind viele Sachen zu verhandeln, so geht die Sache der Waisen allen vor, dann folgt die der Witwen, dann die der Gelehrten, die Sache des Gelehrten hat den Vorzug, vor der des Nichtgelehrten, die Sache einer Frau vor der eines Mannes.

§ 3. Wenn eine Sache vor einen Richter kommt, von welcher er offenbar sieht, dass sie sich auf Betrug gründet (obschon sie den Schein des Rechtes für sich hat), so darf der Richter nicht sagen, ich will das Urteil fällen und die Sünde mag auf das Haupt der Zeugen fallen. Nein. Er muss die Sache auf alle mögliche Art hin und her wenden, als wenn sie ein Menschleben beträfe. Sieht er ein, dass hier Betrug obwaltet oder dass die Zeugen unzuverlässig, obschon solche nicht zu verwerfen sind, oder sieht er, dass der Kläger ein Betrüger und ein listiger Mensch ist, der die Zeugen überredet hat, dass sie in ihrer Einfalt gezeugt haben, oder sieht er sonst in der ganzen Sache viel Widersprechendes, dem man nicht auf den Grund kommen kann u. dgl. M., so darf er in dieser Sache nicht richten, sondern muss sich derselben entziehen und sie einem anderen Richter überlassen, der mit seinem Gewissen (oder Verstand, Vernunft) über diese Sache im Reinen ist; denn das ist Sache des Gewissens (das Wort לב Herz, Leb, bedeutet beides). Wenn dem Rosch (Rabbi Ascher) eine solche Sache vorkam, so gab er immer dem Beklagten eine Schrift des Inhaltes: dass kein Richter sich mit dieser Sache befassen soll.

§ 4. Dies gilt aber nur, wenn der Kläger ein Betrüger ist; ist es aber der Beklagte, so darf der Richter sich der Sache nicht entziehen, wodurch der Betrüger Vorteil haben würde, sondern er muss im Gegenteile alles Mögliche tun, um den Betrug zu zerstören und wenn es ihm deucht, dass er unbezweifelt schuldig ist, so soll er ihn verurteilen; es muss aber ein probater Richter sein und der einzige seiner Zeit! In diesem Falle kann der Richter dem Beklagten auch einen Eid zuerkennen, selbst gegen das Gesetz, um die Wahrheit ermitteln, und er braucht ihm keine Zeit zur Bezahlung zu bewilligen, derselbe müsste denn Bürgschaft stellen, denn bei solchen Fällen urteilt der Richter nach seiner Vernunft und nicht nach dem Gesetze.

§ 5. Der Richter ist berechtigt, in Geldsachen nach Beschaffenheit der Verhandlungen zu urteilen, wenn dies Urteil seiner vernünftigen Überzeugung entspricht, obwohl kein ganz klarer Beweis dafür vorhanden ist; da aber im Laufe der Zeit sehr viele Richter eingesetzt worden sind, die entweder unredlich sind oder nicht Vernunft genug besitzen, so sind die größeren Gerichte übereingekommen, dass man ohne klaren Beweis den Eide, den jemand schuldig ist, nicht dem anderen zuschreiben darf und dass man keine Schuldverschreibung auf das Zeugnis einer Frau oder eines Verwandten außer Kraft erklären darf, obschon die höchste Wahrscheinlichkeit dafür ist; auch darf man Waisen kein Geld zahlen lassen, wenn nicht untrügliche Beweise da sind; jedoch lässt man das Zeugnis eines glaubhaften Zeugen nicht unberücksichtigt, besonders, wenn die Meinung des Richters für die Aussage ist. In diesem Falle verfährt das Gericht langsam, verhandelt mit den Parteien bis sie mit dem Zeugen übereinstimmen oder forscht so lange, bis die Sache klar wird oder man bringt sie zum Vergleich oder entzieht sich derselben ganz und gar, wie schon im § 3 erklärt worden. Wenn das Gericht überzeugt ist, dass jemand gewaltsamer Weise etwas von seinem nächsten genommen und man kann es auf dem Wege des Rechtes nicht wieder zurückerhalten, so hat es die Macht, den Umgang mit diesem Menschen zu verbieten; ist es eine Frau, so darf sie keiner heiraten, bis sie oder er das ungerechte Gut wieder herausgegeben hat.