Über das Gebot, Vater und Mutter zu ehren

Abschnitt 240.
Über das Gebot, Vater und Mutter zu ehren und Ehrfurcht vor ihnen zu haben.

Man muss sich sehr bestreben, Vater und Mutter zu ehren und Ehrfurcht vor ihnen zu haben. Das Gericht ist in dessen nicht gehalten, irgend jemand dazu zu zwingen, da in der Schrift gleich hinter diesem Gebote auch die Belohnung dafür von Gott ausgesprochen ist (2. B. M. 20, 12) und jedes Mal, wo dies der Fall ist, zwingt das Gericht niemanden zur Ausübung dieses Gebotes; indessen hängt es lediglich vom Gerichte ab; es kann auch, wenn es will und es nötig ist, dazu zwingen.
Wie weit geht die Ehrfurcht vor dem Vater? Man darf sich nicht auf den Platz hinstellen, der dem Vater bestimmt ist, in der Versammlung seiner Freunde Rat zu halten, oder auf die Stelle, wo der Vater gewöhnlich betet, auch bei Tische nicht auf der Stelle sitzen, die dem Vater bestimmt ist; man darf seinen Worten nicht widersprechen, auch kein Urteil darüber fällen, nicht einmal ein beifälliges; man darf ihn nicht bei seinem Namen nennen, selbst nicht nach dessen Tode, sondern man muss immer sagen: mein Vater, mein Lehrer! Hat der Vater den gleichen Namen mit anderen Leuten und man will einen von diesen nennen, und es ist ein außergewöhnlicher Name, so muss man solchen verändern; sonst aber ist es erlaubt, wenn der Vater nicht gegenwärtig ist.
Die Ehrfurcht vor den Eltern geht ferner so weit, dass, wenn der Sohn herrlich bekleidet an der Spitze der Gemeinde sitzt (als Vorsteher) und seine Eltern kommen und zerreißen ihm die Kleider, schlagen ihn, spucken vor ihm aus, der Sohn sie doch nicht beschämen darf, sondern er muss schweigen und sich vor dem Könige aller Könige (Gott) fürchten, der ihm dies befohlen hat. Ehren muss man den Vater, man muss ihm nämlich zu essen und zu trinken geben, Kleiden, Bettzeug geben, aus dem Hause und wieder hinein führen. Dies alles muss mit freundlichem Gesichte (gerne) geschehen, denn wenn man ihm auch alles Mögliche tut, ihm jeden Tag fette und gewürzte Speisen zu essen gibt zeigt ihm aber ein unfreundliches Gesicht dabei (tut es nicht gerne), so wird man doch von Gott bestraft; ebenso umgekehrt. Auch muss man dem Vater alle Dienstleistungen tun, welche ein Bedienter seinem Herrn tun muss.
Hat der Vater kein Vermögen, der Sohn ist aber nicht  arm, so  muss er den Vater nach Vermögen nähren, und wenn er nicht will so zwingt man ihn dazu; ist der Sohn aber auch arm, so hat er des Vaters wegen nicht zu betteln nötig. Einige Rabbiner wollen, dass der Sohn dem Vater nur so viel geben müsse, als er ohnehin der allgemeinen Armenanstalt geben muss; kann er aber mehr geben und unterlässt es, so komme ein Fluch über ihn. Sind mehrere Söhne da, so wird nach deren Vermögen gerechnet; sind einige von ihnen arm, so müssen die reichen allein diese Pflicht erfüllen. Was aber die Ehre für die Person des Vaters betrifft, so muss jeder der Söhne die beobachten, und wenn er auch von seiner Arbeit gestört würde und dadurch gezwungen wird, den folgenden Tag für seine eigene Unterhaltung zu betteln. Hat der Sohn aber auch nicht soviel, als seine heutigen notwendigen Bedürfnisse erfordern, so hat er nicht nötig, sich in der Arbeit stören zu lassen und dadurch für sich selbst betteln zu müssen. Ist ein Geschäft für den Sohn in der Stadt abzumachen, und er weiß, dass dies Geschäft auch ohne ihn von anderen (seinen Freunden), wenn er sie darum bittet, abgemacht wird, nicht allein aus Rücksicht auf seinen Vater, sondern auch seinetwegen, so soll er doch nicht sagen: tut dies mir zu Gefallen, sondern sagen: meines Vaters wegen, um die Ehre dem Vater zu lassen. – Der Sohn muss vor seinem Vater, wenn dieser ihm zu Gesicht kommt, aufstehen; ist der Vater ein Schüler seines Sohnes, eines Gelehrten, und sein Vater lernt von ihm, so müssen beide einer vor dem anderen aufstehen; will der Sohn auf seine Ehre als Gelehrter verzichten und seinen Vater bedienen, so steht es ihm frei, denn dies ist auch einem Lehrer gegen seinen Schüler erlaubt. Ist aber der Sohn ein sehr großer Gelehrter, so ist es gut, dass sie sich gegenseitig etwas entfernt von einander halten, damit der eine der Ehre des anderen nicht zu nahe trete, und auch, damit die Gelehrsamkeit (die Thora) nicht heruntergesetzt werde. Die Ehrfurcht für die Eltern geht so weit, dass, wenn sie von dem Sohne einen Beutel voll Geld nehmen und ihn in seiner Gegenwart ins Meer werfen, er sie doch nicht beschämen darf; er darf sich darüber weder in ihrer Gegenwart grämen, noch gegen sie zürnen, sondern Gottes Befehl auf sich nehmen und schweigen. Einige Rabbiner wollen, dass der Sohn den Vater oder die Mutter vor der Tat daran verhindern könne; aber nach der Tat darf er die Eltern, wie gesagt, deshalb nicht beschämen, jedoch kann er den Vater deshalb vor Gericht fordern lassen, nicht aber, wenn der Vater ihm bloß einen Verdienst entzieht, den er hätte haben können. Wenn der Sohn vom Vater wegen einer Klage vor das Gericht geladen wird und der Sohn wohnt in einer anderen Stadt, so muss der Sohn nach der Stadt des Vaters, wo die Anklage geschah, kommen; der Vater muss ihm die Unkosten dafür zahlen. Der Sohn muss den Vater auch nach dessen Tode noch ehren, z.B. er hört etwas von ihm erzählen, so muss er sagen. Dies hat mein Vater mein Lehrer gesagt, ich will ein Opfer für ihn sein – wenn er noch keine 12 Monate (ein jeder Verstorbene leidet elf Monate lang Strafe, bevor er in das Paradies gelangen kann.) tot ist, ist er aber schon länger tot, so sagt er bloß: Gesegnet sei sein Andenken. In all dem bisher Gesagten ist kein Unterschied zwischen Vater und Mutter. Einige Rabbiner wollen, dass wenn der Sohn innerhalb der 12 Monate nach dem Tode seines Vaters etwas schreibt, wobei er seines Vaters erwähnt, er dabei nicht zu schreiben brauche, er wolle ein Opfer für ihn sein, denn das Geschriebene bliebe ja noch nach den 12 Monaten, sondern er hat nur nötig,  zu schreiben: gesegneten Angedenkens; andere Rabbiner wollen es aber doch haben, und so ist auch der Gebrauch.
Wessen Vater oder Mutter verrückt geworden ist, der muss sich bestreben, sich mit ihnen zu beschäftigen und Geduld mit ihnen zu haben, bis Gott sich ihrer erbarme; geht aber der Grad der Verrücktheit schon so weit, dann kann er sie verlassen, muss ihnen aber Wärter halten, die sich gehörig mit ihrer Bewachung befassen. Sieht der Sohn, dass der Vater gegen ein Verbot im Gesetz handelt, so darf er nicht zum ihm sagen: Du hast ein Gesetz übertreten, sondern er sage ihm: Vater, so und so steht im Gesetz; frageweise, nicht warnend, damit der Vater ihn von selbst verstehe und sich nicht vor ihm zu schämen brauche. Verlangt der Vater von ihm Wasser und er muss eben ein Gebot im Gesetz ausüben, das keinen Aufschub leidet, z.B. einen Toten begraben oder ihn zum Grabe begleiten, dies kann aber durch andere geschehen, so soll er seinem Vater aufwarten, sonst aber muss er sich erst mit dem Toten Beschäftigen; wenn er aber schon mit dem Toten beschäftigt war und sein Vater befiehlt ihm etwas, so braucht er es nicht zu tun, denn wenn jemand mit der Ausübung eines Gebotes schon beschäftigt ist, so ist er in diesem Augenblick von der Ausübung eines anderen Gebotes befreit. Im Gesetz studieren ist ein wichtigeres Gebot als das, Vater und Mutter zu ehren, und geht diesem vor. Befiehlt ihm der Vater etwas und die Mutter will dasselbe für sich haben, so muss er dem Vater zuerst aufwarten; ist die Mutter aber von seinem Vater geschieden, so sind beide in dieser Hinsicht für ihn gleich und es hängt von ihm ab, wem von Beiden er erst aufwarten will. Befiehlt ihm der Vater, gegen irgendein Gebot oder Verbot zu handeln, und wenn es auch nur ein talmudisches wäre, so darf er ihm keine Folge leisten. Verbietet ihm der Vater, mit N. nicht zu sprechen und sich vor einer gewissen (benannten) Zeit mit ihm zu versöhnen, so braucht er sich, wenn er nicht will, an das Verbot seines Vaters nicht zu kehren (denn man darf keinen Juden hassen, der das Gesetz beobachtet). Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren und Ehrfurcht vor ihnen zu haben, haftet ebenfalls auf dem weiblichen Geschlechte, aber eine verheiratete Frau ist frei davon, da sie ihrem Manne untergeben ist; sobald sie aber geschieden oder Witwe ist, muss sie dies Gebot wieder beobachten. Ein Kind aus unehelicher oder aus verbotener Ehe muss ebenfalls seinen Vater ehren, selbst wenn dieser ein Bösewicht und ein Sünder wäre. Einige sind dagegen und behaupten, der Vater müsse sich erst bekehren und Buße getan haben.
Der Vater soll aber den Kindern die Ausübung dieses Gebotes auch nicht zu sehr erschweren und es mit seiner Ehre nicht so genau nehmen, damit sie (die Kinder) nicht sündigen, und lieber manchmal tun, als wenn er die Verletzung seiner Ehre nicht merke; denn es ist jedem Vater erlaubt, zuweilen auf die Verehrung von seinen Kindern zu verzichten. Wenn jemand seinen erwachsenen Sohn schlägt und dieser (nach Einigen) das 22. (nach anderen das 24.) Jahr erreicht hat, so wird er mit Bann bestraft, denn er überschritt das Verbot: Vor einem Blinden sollst du nichts hinlegen, worüber er fallen könnte (du sollst niemand Anlass zu sündigen geben – der Sohn könnte sich zur Wehr setzen).
Man muss auch seinen Stiefvater und seine Stiefmutter ehren, d.h. so lange seine Mutter und sein Vater noch lebt; nach deren Tode hört das Gebot zwar auf, aber es schickt sich doch, sie auch dann noch zu ehren. Man soll auch seinen älteren Bruder (auch Stiefbruder) ehren, selbst wenn der Jüngste gelehrter als der Älteste ist. Wenn der älteste Bruder den jüngsten, der ein Gelehrter ist, gelästert und verachtet hat und dieser hat den ältesten deshalb mit Bann bestraft, so hat er recht getan. Denn da er (der Älteste) keine Rücksicht auf die Thora, das Gesetz, die Gelehrsamkeit nimmt, so hat der Jüngste auch nicht nötig, ihn als älteren Bruder zu ehren. (Man darf nicht vergessen, dass das Verbot, keinen Gelehrten zu verachten, nicht seiner Person wegen geschieht, sondern weil es das Gesetz innehat, man verachtet also dasselbe in seiner Person.)
Auch seinen Schwiegervater muss man ehren. Einige Rabbis wollen, dass man nicht nötig habe, den Großvater zu ehren, dies deucht mir aber nicht recht (sagt die Hagah), nur dass man ihn nicht so wie den Vater zu ehren braucht. Will der Vater den Sohn bedienen, so darf dieser den Dienst annehmen, außer wenn der Vater im Gesetz bewandert ist. Wenn ein Schüler aus seiner Vaterschaft weg nach einer anderen ziehen will, und zwar des Studierens wegen, weil er die Zuversicht hat, dass ihm das Studieren in der anderen Stadt bei dem  dortigen Lehrer besser glücken würde, der Vater will ihn aber daran verhindern, weil in der dortigen Stadt die Nichtjuden allerlei Vorwände benützen, um die Juden quälen zu können, so braucht er ihm keine Folge zu leisten. Ebenso wenn der Sohn sich verheiraten will und der Vater hat etwas gegen seine Braut; in diesem Falle braucht der Sohn dem Vater auch nicht Folge zu leisten. Die Ursache bei den beiden erwähnten Fällen ist, weil der Vater kein Recht hat, seinen Sohn an der Ausübung der Gesetze zu hindern (Studieren und das Geschlecht vermehren). Wenn jemand ohne Unterschied des Geschlechtes seinem Vater oder seiner Mutter flucht, selbst nach ihrem Tode, und er ist vorher gewarnt worden und es sind Zeugen dafür, so wird er gesteinigt (zur Zeit des Tempels); er muss aber einen von Gottes ordentlichen Namen dabei ausgesprochen haben, keine Zunamen, mit welchen man Gott auch wohl benennt, z.B. Allmächtiger, Gnädiger, Barmherziger usw.; in diesem Falle wird er nicht gesteinigt, sondern nur mit 39 Schlägen bestraft. Wenn jemand seinen Vater oder seine Mutter bei ihrem Leben geschlagen hat, ohne Unterschied des Geschlechtes, so wird er erwürgt; er muss aber eine Wunde geschlagen haben, sonst wird er nur mit 39 Schlägen bestraft. Hat er seinen Vater aufs Ohr geschlagen und ist derselbe dadurch taub geworden, so ist er des Todes schuldig; denn durch das Schlagen allein, ohne Wunde, wird niemand taub; durch das Schlagen ist aber ein Tropfen Blut aus dem Kopfe in das Ohr gekommen und dies verursacht die Taubheit.
Hat der Vater einen Dorn (Splitter) irgendwo in seinem Körper stecken, so darf der Sohn denselben nicht herausnehmen, denn er könnte ihm eine Wunde (Blut fließend) dadurch machen, ebenso wenig darf der Sohn, wenn er Wundarzt ist, dem Vater zur Ader lassen oder ein Glied seines Körpers abschneiden, wenn dies auch notwendig ist. Ist aber niemand da, der dies tun kann, so darf er alles tun, was ihm der Vater oder die Mutter in dieser Hinsicht erlaubt. Waren die Eltern ausgemachte Bösewichte und Sünder, sind sie sogar deshalb vom Gericht (jüdischen) zum Tode verurteilt und werden sie selbst schon zum Richtplatz geführt, so darf der Sohn sie doch weder schlagen, noch ihnen fluchen; hat er es aber doch getan, so wird er nicht bestraft (vom Gericht). Haben die Eltern aber Buße getan, so wird er strafbar und sogar getötet, wenn er sie schlug oder ihnen fluchte, wenn sie auch schon zum Richtplatz geführt werden. Hat sein Vater oder seine Mutter ein Verbot übertreten, sie werden zu 39 Schlägen verurteilt und der Sohn ist Gerichtsbote, so darf er den Befehl des Gerichtes nicht an ihnen vollführen, ebenso darf er, wenn sie mit Bann bestraft werden, als Gerichtsbote dergleichen Befehle ihnen nicht überbringen, selbst wenn sie die Strafe verdient und keine Buße getan haben. Wer seine Eltern mit Worten, auch nur mit einem Wink (Andeutung) verachtet, der ist von Gott verflucht. 5. B. M. 27, 16. Verflucht sei, der gering schätzt, hlqm (Makleh), seinen Vater oder seine Mutter und alles Volk soll sagen Amen und das Gericht soll deshalb denjenigen, der so etwas tut, gehörig züchtigen und bestrafen. Ist ein Vater vorm Gerichte verurteilt, dass sein Sohn gegen ihn schwören soll, so darf sich der Sohn keines Schwures bedienen, in dem ein Fluch vorkommt, weil er dadurch seinem Vater flucht. Ein Verschwiegener, yqvts (Schtuki, so nennen die Talmudisten jedes uneheliche Kind, das seine Mutter oder seinen Vater nicht kennt, sie also nicht nennen kann), darf zwar seine Mutter nicht schlagen oder ihr fluche, wohl aber seinem Vater; d.h. wenn die Mutter von jemand ausgesagt hat, dass dieser sein Vater sei, so wird der Sohn auf ihre Aussage doch nicht bestraft, wenn er den angeblichen Vater geschlagen oder ihm geflucht hat. Der Sohn einer Dienstmagd oder einer Fremden (aus unerlaubtem Umgange) hat keine Verpflichtung gegen seine Eltern, denn jedes Kind im Leibe einer Sklavin oder Nichtjüdin ist nicht besser als ein Vieh, sagt der Ture Sahab, ebenso ein jeder, dessen Mutter in der Schwangerschaft oder dessen Vater in der Beiwohnung nicht in Heiligkeit war, wenn auch seine Geburt in Heiligkeit war, da die Eltern damals rechtmäßig (jüdisch) verbunden und zum Judentum übergegangen waren. Ein Proselyte (vom Nichtjudentum zum Judentum übergegangen) darf seinen nichtjüdischen Vater weder schlagen, noch ihm fluche, noch ihn verachten, damit den Nichtjuden kein Ärgernis gegeben werde, in dem sie sagen könnten, der hat es leichter. Ein jüdischer Sklave aber, der seine Freiheit erhalten hat und in der Sklaverei von einer Sklavin geboren wurde, hat in keiner Hinsicht einen Stammbaum und es ist so, als wenn er gar keinen Vater hat. (Siehe 2. B. M. 18, 4)