Barmherzigkeit. (רחמים) Kapitel 17

Erhärte nicht dein Herz gegen deinen Bruder, den Dürftigen. (V, 15, 7.)

§. 125. Barmherzigkeit ist das Mitgefühl, daß der Schmerz des einen Wesens von selbst im andern Wesen wiedertöne; und je edler, je höher hinauf zum Menschen, um so zarter besaitet sind die Wesen für diese Leidens-Echo, die wie eine Stimme vom Himmel die Wesen durchdringt und ihnen Bürgschaft ist für ihre Allverwandtschaft in dem Alleinen. Bis endlich im Menschen, dessen Beruf Achtung und Liebe ist gegen das All der Gotteswelt, sein Herz so weich geschaffen ist, daß es mit der ganzen organischen Welt mit fühlt, selbst empfindungslosen Wesen Schmerzgefühl leihend, auch mit welkender Blume trauert, — und ihm so, wenn anderes nicht, schon seines Herzens Einrichtung lehren müßte, daß er vor allem berufen sei, sich Bruder aller Wesen zu fühlen, und alle Wesen Anspruch an seine Liebe, an seine That haben.

§. 126. Diese Warmherzigkeit, dieses Mitgefühl, zumal mit den Leiden deiner Menschenbrüder, unterdrücke es nicht! Es ist dir die mahnende Stimme der Pflicht, die dir in jedem Leidenden den Bruder zeigt, und in seinem Leiden das deinige; und die Liebe aufruft, die dich lehrt, daß du ihm angehörest und seinem Leiden mit allen Kräften, die dir sind. Unterdrücke es nicht! Drängst du es häufig zurück, so keimt’s von selbst nicht mehr auf, und du hast dich selber hinausgerissen aus dem Kreise der Wesen, hast die erste Bürgschaft deines Mensch-Jissroel-Beriffs selbst vernichtet — dein Herz wird Stein, und die Gottesstimme tönt nicht mehr in ihm, die dich mahnt an deinen Beruf.

§. 127. Unterdrücke es nicht etwa als Störer der eigenen Freude. Vielmehr siehe gerade darin Gottesruf, daß du keine Freude haben sollst, so lange neben dir ein Bruder leidet. — Unterdrücke es nicht, weil du fühlst wie es dich zum Mitteilen deines Vermögens ruft. Vielmehr bürge es eben dir, daß dein Vermögen nicht dir gehöre, sondern Gott jedem Bedürftigen Anspruch daran gegeben. — Unterdrücke es nicht, daß du dich seiner etwa gar als ungeziemender Schwäche schämest, schämest dessen, das Gott dir selber als Bürgschaftsbrief deines edlen Berufs als Mensch-Jissroel mitgegeben. Wenn der Seufzer leidender Menschheit verwandte Seufzer dir entruft, ihre Trauer auch dein Antlitz umwölkt, und die Thräne des Mitgefühls in dein Auge tritt — das adelt dich! — es bürgt dir, daß du Mensch-Jissroel seiest. —

§. 128. Doch laß dich auch warnen vor jener Entartung des Mitgefühls in Empfindelei und Verzärtelung, die also mit dem leidenden Wesen sich verselbert, daß weder Ruhe, noch Kraft, noch Stärke bleibt, zu helfen. Da wird das Übermaß selber das Grab der Pflicht, zu der Mitgefühl ruft. Vielmehr gewöhne dich früh bei Leiden jeder Art hülfreich thätig sein zu können. (‏יי’ר‎ 247.)