V. 14. Mein Täubchen dort in Felsenritzen
V. 14. Mein Täubchen dort in Felsenritzen.
Wer ist das Täubchen? So nennt Gott, sagte R. Jochanan, Israel s. Hos. 7, 11. Bei mir, spricht Gott, erscheint Israel wie ein Täubchen, bei den Völkern der Welt wie ein wildes Tier s. Gen. 49, 9: „Ein junger Löwe ist Juda“, V. 21: Naphthali ist eine schlanke Hindin“, V. 27: „Benjamin ein Wolf, der raubt.“ Alle zwölf Stämme werden mit wilden Tieren verglichen. Weil die Völker Israel bekriegen und sprechen: Was wollt ihr mit eurer Shabbathfeier und Beschneidung? Allein Gott verleiht den Israeliten Stärke, dass sie gegen die Völker wie wilde Tiere werden, um sie vor Gott und Israel zu demütigen, aber vor Gott verhalten sie sich wie die fromme Taube durch kindliche Folgsamkeit, wie geschrieben steht Ex. 4, 31: “Das Volk glaubte, als es hörte, dass der Ewige es bedacht habe.“ So sprach auch Gott zu Mose: Mose! du stehst da und schreist, ich habe Israel und sein Flehen bereits vernommen, wie es heißt Ex. 14, 15: „Was schreist du zu mir?“ Die Israeliten bedürfen deiner Fürbitte nicht. Darum sagt Gott hier: „Mein Täubchen dort in Felsenritzen.“
R. Jehuda bar R. Simon sagte: Gott sagt von den Israeliten: Gegen mich verhalten sie sich so fromm wie die Tauben, unter den Völkern der Welt aber sind sie klug wie die Schlangen vergl. Dan. 3, 16. Es heißt in der in dem angezogenen Vers enthaltenen Antwort der drei Männer Schadrach, Mesach und Abed Nego: sie erklärten dem König Nebucadnezar, wo doch eine der beiden Benennungen hinreichend wäre, es brauchte entweder bloß: dem König, oder bloß Nebucadnezar zu stehen, allein sie verbanden damit diesen Sinn: Magst du uns auch alle Arten von Steuern, wie Kopfgelder, Gemeindesteuern und Beisteuern auflegen, so zahlen wir sie, denn du bist König über uns, wie es heißt: „dem Könige Nebucadnezar“, wenn du aber von uns verlangst, dass wir uns vor deinem Götzenbilde bücken sollen, dann heißt du bloß Nabucadnezar d. i. du und der Hund sind uns gleichbedeutend, belle wie der Hund, blähe dich auf wie ein Wasserkrug und zirpe wie eine Grille. Bald darauf bellte er wirklich wie ein Hund, blähte sich auf wie ein Wasserkrug und zirpte wie eine Grille. (Vergl. Midr. Wajikra r. Par. 37) Das ist es, was auch Kohelet 8, 2 nach der Erklärung von R. Levi gesagt ist: „Ich achte auf den Mund des Königs der Könige, auf jenen Mund, der zu uns auf dem Sinai gesprochen.“ Ex. 20, 2: „Ich bin der Ewige, dein Gott“, „wegen des Eides Gottes” (s. Koh. 8, 2b) d. i. ich halte auch das, was über den Schwur: „du sollst den Namen des Ewigen nicht vergeblich aussprechen“ (s. Ex. 20, 7), geboten ist.
R. Ismael hat gelehrt: Womit waren die Israeliten bei ihrem Auszuge aus Ägypten zu vergleichen? Mit einer Taube, welche vor dem Habicht floh, in einen Felsenritz kroch und da eine Schlange nistend fand. Sie wollte hinein, konnte aber nicht, weil drinnen noch die Schlange nistete, konnte aber auch nicht zurück, denn der Habicht stand draußen. Was tat die Taube? Sie fing an zu jammern, lärmte mit den Flügeln, damit der Herr des Taubenschlags sie höre, herbeikomme und sie rette. So ging es auch den Israeliten am Meere, ins Meer konnten sie nicht treten, denn es war ihnen noch nicht gespalten, zurück konnten sie auch nicht, weil bereits Pharao heranrückte. Was taten sie? Sie fürchteten sich sehr, schrieen zum Ewigen und es ward ihnen geholfen s. Ex. 14, 10. 30
R. Jehuda führte im Namen des R. Chana vom Dorfe Techumin dieses Beispiel an: Ein König hatte eine einzige Tochter, die er gern sprechen hören wollte. Was tat er? Er ließ durch einen Herold bekannt machen, dass die ganze Bevölkerung auf einen freien Platz komme. Als sie sich daselbst eingefunden hatte, winkte er seine Diener herbei, dass sie plötzlich wie Räuber sie anfallen) sollten. Die Königstochter fing an zu schreien: Vater, Vater, rette mich! Wenn ich es nicht so angestellt hätte, sprach dieser zu ihr, so würdest du nicht so gerufen und gesagt haben: Vater, rette mich! So fingen auch die Israeliten, als sie von den Ägyptern sklavisch behandelt wurden, zu schreien an und richteten ihre Blicke auf Gott s. Ex. 2, 23. 24. Gott gab ihrem Angstgeschrei und Gebete Gehör und führte sie mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus der Sklaverei. Gott wollte aber ihre Stimme noch einmal hören, aber sie wollten sie nicht vernehmen lassen. Was tat Gott? Er ließ Pharao starrsinnig werden, dass er ihnen nachsetzte s. das. 14, 8 u. 10. Was heißt das: er rückte heran? Er drängte die Israeliten zur Buße (Um- und Einkehr), dass sie ihre Augen zu Gott emporhoben und zu ihm schrieen wie damals in Ägypten s. das. V. 10. Wenn ich es euch nicht so gefügt hätte, sprach Gott, so hätte ich eure Stimme nicht zu hören bekommen. Hierauf beziehen sich die Worte: „Mein Täubchen in den Felsenritzen, lass mich hören deine Stimme, denn süß ist deine Stimme“, die Stimme nämlich, die ich schon in Ägypten vernommen habe. Als die Kinder Israel vor Gott schrieen, da ward ihnen auch an demselben Tage Hilfe zu Teil s. Ex. 14, 30
R. Eleasar deutete den Vers auf die Israeliten, als sie am Meere standen. „Mein Täubchen in Felsenritzen“ d. i. sie waren im Schirm des Meeres verborgen; „lass mich dein Angesicht sehen“, wie es heißt Ex. 14, 13: „Stehet und sehet die Hilfe des Ewigen“; „lass mich deine Stimme hören“, das ist das Loblied, welches Mose sang s. das. 15, 1; „denn süß ist deine Stimme“ d. i. dein Sang, „lieblich dein Anblick“, denn die Israeliten wiesen mit dem Finger auf ihn, rufend: „Dieser ist mein Gott, ihn will ich verherrlichen“ s. das. 15, 2.
R. Akiba deutete obigen Vers auf die Israeliten, als sie vor dem Berge Sinai standen. „Mein Täubchen in Felsenritzen“ d. i. verborgen im Schirm des Berges Sinai; „lass mich sehen dein Angesicht“, wie es heißt Ex. 20, 18; „Und das ganze Volk sah die Donner“; „lass mich deine Stimme hören“ d. i. die Worte vor den Zehngeboten s. Ex. 24, 7: „Alles, was der Ewige gesprochen, wollen wir tun und gehorchen, denn deine Stimme ist süß“ d. i. die Worte nach den Zehngeboten s. Deut. 5, 28: „Und der Ewige hörte die Stimme eurer Worte u. s. w.; es ist alles gut, was sie geredet.“ Was heißt das? R. Chija bar Ada und Bar Kapra (sind darüber verschiedener Meinung). Der eine sagte: Sie sind mir so lieb wie Leuchten, der andere sagte: Sie sind mir so angenehm wie Weihrauchduft. „Dein Anblick ist lieblich“, wie es heißt Ex. 20, 18: „Und als das Volk solches sah, flohen sie und traten von ferne.“
R. Jose der Galiläer deutete obigen Vers auf die Israeliten, als sie unter den Fremdherrschaften sich befanden. „Mein Täubchen in Felsenritzen“ d. i. sie waren geborgen unter dem Schirm der Fremdherrschaften; „lass mich sehen dein Angesicht“ d. i. das Lernen; „lass mich hören deine Stimme“ d. i. die gute Tat. Was von beiden vorzuziehen sei, ob das Lernen oder die Tat, diese Frage war schon einmal in der Bodenkammer zu Lydda angeregt worden. R. Tarphon gab der Tat, R. Akiba aber dem Lernen den Vorzug. Sie kamen schließlich darin miteinander überein, dass dem Lernen der Vorzug gebühre, weil es zur Tat führe. „Denn deine Stimme ist süß“ d. i. das Lernen, „und lieblich ist dein Angesicht“ d. i. die gute Tat.
R. Huna und R. Acha im Namen bar Chanina’s deuteten den Vers nach der Meinung des R. Meir auf das Stiftszelt. „Mein Täubchen in Felsenritzen“ d. i. sie (die Israeliten) waren geborgen unter dem Schirm des Stiftszeltes; „lass mich sehen dein Angesicht“, wie es heißt Lev. 8, 4: „Die Gemeinde versammelte sich an dem Eingange des Stiftszeltes; „lass mich hören deine Stimme“, wie es heißt das. 9, 24: „Und das ganze Volk sah es und sie jauchzten“, d. i. sie stimmten einen lieblichen Gesang an. Weil sie etwas Neues gesehen hatten, so sangen sie auch ein neues Lied. „Denn deine Stimme“ d. i. dein Jubelgesang, „ist süß“, „und dein Anblick“ d. i. dein Erscheinen s. Lev. 9, 5 „angenehm“.
R. Tanchuma sagte: Wenn jene Männer den Vers nach dem Sinne des R. Meir auf das Stiftszelt auslegen, so lege ich ihn nach dem Sinne der Rabbinen auf den Tempel aus. „Mein Täubchen in Felsenritzen“ d. i. im Schutze des Heiligtums geborgen; „lass mich sehen dein Gesicht“, als Salomo dich berief, die Bundeslade nach Jerusalem zu bringen s. 2 Chr. 5, 2; „lass deine Stimme“ d. i. den Einklang deiner Trompeter und Sänger „mich vernehmen“ s. das. V. 13. R. Abin sagte im Namen des R. Abba Kohen ben Dalja: Es heißt Ex. 19, 8: „Und es antwortete das ganze Volk einstimmig“; desgleichen heißt es das. 24, 3: „Und es antwortete das ganze Volk mit einer Stimme also.“ Bis hierher stand ihnen jene Stimme bei 2 Chron. 5, 2: „Wie wenn es einer wäre, spielten die Trompeten und Sänger mit einer Stimme.“ „Denn deine Stimme“ d. i. das Lied „ist süß“, „und deine Erscheinung“ d. s. die Friedensopfer s. 1 Reg. 8, 63 „ist lieblich.“
R. Elia deutete den Vers auf die Wallfahrer. „Lass mich sehen dein Angesicht“ d. s. die an den jährlichen drei Festen nach Jerusalem hinaufziehenden Wallfahrer s. Deut. 16, 16; „lass mich deine Stimme“ d. i. das helle Singen des Hallel, „vernehmen“. In der Stunde, wo die Israeliten das Hallel singen, steigt der Widerhall zur Höhe empor. Das Sprichwort sagt: Wird im Hause das Pessachfest gefeiert und das Hallel (Psalmenhymnus) gesungen, so bricht der Söller (durch den Freudenlärm) zusammen. „Denn deine Stimme“ d. i. das Lied „klingt süß, und dein Erscheinen“ d. i. der Duchan „ist lieblich.“
R. Jehuda bar R. Simon sagte im Namen des R. Simon ben Eleasar: Warum ist Rebecca in den ersten Jahren ihrer Ehe kinderlos geblieben? Weil sonst die Völker der Welt gesagt hätten: Unser Gebet hat Früchte gebracht, weil man zu ihr gesagt hatte Gen. 24, 60: „Unsre Schwester, du werde zu tausendmaltausenden.“ Erst als Jizchak für sie betete s. das. 25, 2: „Und Jizchak betete zum Ewigen für sein Weib“, wurde sie bedacht.
Warum ist denn aber unsern Stammüttern überhaupt ein solches Loos beschieden gewesen? Darum, wie R. Asarja im Namen des R. Chanina bar Papa sagte, dass ihre Schönheit nicht sobald in den Augen der Männer sich vermindern, oder wie R. Huna und R. Jeremja im Namen des R. Chija bar Abba sagten, dass ihre meisten Jahre ohne Beschwerlichkeit verlaufen, oder wie R. Chunja im Namen des R. Meir meint, dass ihre Männer an ihrer Schöne sich ergötzen sollten; denn so lange das Weib schwanger wird, wird sie hässlich und garstig, was du auch daran erkennen kannst: So lange unsre Mutter Sara nicht schwanger war, weilte sie in ihrem Hause wie die Braut in ihrem Gemache, mit ihrer Schwangerschaft änderte sich ihr Aussehen vergl. Gen. 3, 16.
R. Levi im Namen des R. Schila vom Datteldorfe und R. Chelbo im Namen des R. Jochanan sagten: Die Stammütter blieben deshalb so lange unfruchtbar, weil Gott ihr Gebet so gern hörte. „Mein Täubchen“, spricht er zu ihnen, warum versagte ich euch den Muttersegen? Weil ich euch darum bitten hören wollte, „denn deine Stimme ist süß und deine Erscheinung lieblich.“