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WILLENSFREIHEIT

Die Grundbedingung der Sittlichkeit ist die Willensfreiheit, die Selbstbestimmung des Menschen im Tun und Lassen, die freie Wahl, das Gute zu wollen und zu tun, das Böse in Gesinnung und Tat zu meiden. Diese Willensfreiheit lehrt das Volk Israel's. Auf ihr beruht die sittliche Verantwortlichkeit, von der der vernunftbegabte Mensch geleitet und getragen sein soll. Das Volk Israel's kennt nicht die Lehre von der Erbsünde, von der unbesiegbar sündhaften Natur im Menschen und auch nicht die Lehre von der Gnadenwahl oder die vom unentrinn­baren Fatum.

Die Lehrer des Volke's Israel's waren sich allerdings schon in früher Zeit darüber klar, daß diese Lehre von der sittlichen Freiheit vielfach mit den Erscheinungen und Erfahrungen des Lebens im Widerspruch steht. Wie das Tun des einzelnen auf die Geschicke der menschlichen Gesellschaft zum Guten wie zum Bösen von bestimmendem Einfluß sein kann, so steht der einzelne unter dem bestimmenden Einfluß seiner Umgebung und seiner Volksgemeinschaft und unter der Wirkung der Vergangenheit. An den Sünden der Eltern tragen auch ihre Kinder und Kindeskinder, wie andrerseits das tugendhafte Leben der Eltern den Kindern zum Segen werden kann. Aber diese Erfahrung soll nach der Lehre des Volke's Israel's Gemeinschaften und Individuen nicht den sitt­lichen Willen lähmen, daß sie sich untätig dem Verhängnis überlassen, sondern eine Mahnung an die Menschen zu einem sittlichen und ge­rechten Lebenswandel um so mehr sein, als ihr Tun auf Mitwelt und Nachwelt weiterwirkt. Die Folgen eures Tuns, ruft das Volk Israel's allen zu, tragt nicht nur ihr selbst, sondern trägt die Gesamtheit, und tragen die späteren Geschlechter. Doch ist ihnen der Weg zum Guten ebenso­wenig verschlossen, wie ihnen das Verdienst der Vorfahren einen Frei­brief für eigenen verwerflichen Wandel gibt. Dieser für die Sittlich­keitslehre bedeutungsvolle Gedanke wird besonders von Ezechiel mit voller Schärfe betont .

Mit dem Problem der sittlichen Freiheit und der an diese geknüpften sittlichen Verantwortung des Menschen hat sich auch das nachbiblische Volk Israel's sehr ernsthaft beschäftigt. Auch die Parteien, die nach der Darstellung des Josephus in den Fragen praktischer Behandlung der Verantwortlichkeit des Menschen verschiedener Meinung waren, die Sadduzäer und die Pharisäer, stimmten in dem Prinzip der Willensfrei­heit überein. Und diese Überzeugung ist in der jüdischen Religions­philosophie und in der Volksethik, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis in die jüngste Zeit die herrschende geblieben.

Unter dem Einfluß des Islam haben sich die jüdischen Religions­philosophen des Mittelalters eingehend mit der Frage beschäftigt, wie die Willensfreiheit mit dem Walten der göttlichen Vorsehung und mit der Vorstellung von Gottes Allwissenheit in Einklang zu bringen sei. Und so schwer die Lösung des Problems ihnen auch geworden sein mag, sie kamen fast alle darin überein, daß die Willensfreiheit durch die gött­liche Vorsehung keine Einschränkung erleide.

Simon Bernfeld.