VERSÖHNUNG

An diesem Tage wird Er euch sühnen,

Euch zu reinigen.

Von all euern Sünden

Sollt ihr vor Gott rein werden!

III Mos. 16, 30.

„An diesem Tage wird Er euch sühnen.“ Was ist besonderes an diesem Tage? Flammt die Sonne heute strahlender auf, geht sie leuchtender zur Rüste? Funkeln glänzender als sonst droben am Himmelsdom die ewigen Sterne? Ist die Atmosphäre heute reiner und milder, die Luft erfrischender und erquickender? Nichts von alledem. Äußerlich unterscheidet sich der heutige Tag in nichts von den andern Tagen des Jahres. Aber für uns Kinder Israel's hat er eine Bedeutung, die ihn weit hinaushebt über alle Zeiten, durch die der Kreislauf der Monate uns führt. Denn dieser Tag bringt uns Vergebung für unsere Sünden und Versöhnung mit Gott.

Ein Mann geht dahin, eine große Last auf seinen Schultern tragend. Schwerer wird die Last, drückender die Bürde. Immer mehr beugt sich der Körper des Mannes, häufiger muss er, tief aufseufzend, stehen bleiben, bevor er, alle seine Kräfte anspannend, seinen Weg fortsetzen kann. Wie lange wird er die Last noch tragen können, wann wird er unter ihr erliegen und zusammenbrechen? Da kommt sein bester Freund, der Erbarmen mit ihm hat. Er nimmt die Last von seinen Schultern. Wie atmet der Befreite tief auf, erlöst und beglückt, wie streckt und dehnt er die Glieder! Ähnlich ergeht es uns an diesem heiligen Tage. Im Laufe des Jahres häufen sich unsere Sünden und Vergehungen. Sie lasten auf unserer Seele. Sie hindern uns am sittlichen Aufschwung und erschweren unser Vorwärtsschreiten zum Guten. Sie drücken das Göttliche, das in uns lebt, in den Staub und in die Niedrigkeit herab. Da kommt der heutige heilige Tag und ruft uns mit den Worten des Propheten zu: ,,Es weicht deine Schuld, und deine Sünde wird gesühnt,“ und erlöst und befreit können wir ein neues besseres Leben beginnen.

Das alte Märchen, das schon manchen Dichter begeistert hat, erzählt von einem Prinzen, der durch den Bann eines Zauberers in ein Tier verwandelt worden war. Aber an einem Tage weicht der Fluch, und aus dem Tiere wird ein Mensch, ein edler Königssohn, der, seiner Würde sich bewusst, zurückkehrt in den Palast seines Vaters. Erleben wir nicht alljährlich an uns selbst dieses Märchenwunder ? Das ganze Jahr hindurch herrscht der Körper mit seinen sinnlichen Begierden über die Seele, welche ihre Sehnsucht himmelwärts zieht, und mancher Mensch vergisst über der täglichen Arbeit und seinen körperlichen Bedürfnissen überhaupt, dass er eine Seele in sich trägt, und sorgt wie das Tier nur für sein leibliches Wohlergehen. Aber wie im alten Rom an einem Tage des Jahres die Knechte von ihren Herren bedient wurden, so triumphiert am heutigen Tage die Seele über den Körper.

Und da sagt man, wir Kinder Israel's seien ein materielles Volk. Man zeige uns doch eine Nation, die ein so rein geistiges Fest zu feiern imstande ist wie wir. Am heutigen Tage genießen wir nicht Speise und Trank, entsagen allen Vergnügungen und sinnlichen Freuden, beten und büssen; und dennoch nennen wir diesen Tag den schönsten, den herrlichsten, den reinsten Tag des Jahres, weil er ein Feiertag der Seele ist, an dem wir unserer Menschenwürde, unseres göttlichen Ursprunges uns bewusst werden, und von den zwölf Millionen Kinder Israel's, die in der Welt leben, gibt es nur wenige, die dem Zauber des heutigen Tages sich entziehen, für die er nicht der starke Magnet ist und bleibt, der alle jüdischen Herzen mächtig und unwiderstehlich an sich zieht.

„An diesem Tage wird Gott euch sühnen“: Warum wird die Versöhnung an einen bestimmten Tag geknüpft? Hat nicht schon jener alte Lehrer unseres Volkes, Rabbi Elieser, seinen Schülern zugerufen: „Kehret um einen Tag vor eurem Tode,“ und da sie zu ihm sprachen: „wir wissen ja nicht, wann wir sterben werden,“ ihnen geantwortet: „Gerade das meine ich, kehret jeden Tag zu Gott zurück, tuet Busse an jedem Tage, denn vielleicht ist es der letzte eures Lebens.“ Richtet Gott nicht an jedem Tage die Menschheit, blickt Er nicht jederzeit in unser Herz, kann Er nicht jede Stunde unsere Reue sehen und uns verzeihen? Aber der Allgütige kennt unsere Herzen und unsere menschliche Schwäche. Würden wir nicht diesen Tag haben, der uns mit Macht auffordert zur Busse und Rückkehr, würde im Gleichklang der Zeiten sich Tag an Tag und Woche an Woche reihen, ohne dieses einzigartige Fest, das unserer Seele neue Schwungkraft und die Fähigkeit verleiht, sich emporzuheben, dann würde in unserm Leben sich Sünde an Sünde knüpfen. Die Abkehr von Gott und von unsern Pflichten würde dem Menschen zur zweiten Natur werden, denn die „Gewohnheit nennt er seine Amme“, sie würde zu einer Kette werden, deren Schwergewicht uns zu Boden drücken müsste. Wir würden dem Hause gleichen, das nie gesäubert wird. Wie viel Schmutz, Unrat und Ungeziefer sammelt sich darin an. Da wird das Haus geöffnet und gereinigt. Luft und Licht dringen herein, und es steht da in neuem Glanze. Wie dankbar müssen wir dem Allmächtigen sein, dass Er diesen Tag uns gegeben, den Tag der Besserung, den Tag der Sühne, den Tag der Rückkehr zu Ihm!

Doch warum hat Gott gerade diesen Tag, gerade den zehnten Tischri gewählt? Freilich könnten wir auch bei jedem andern Tage so fragen. Aber unsere Weisen wissen uns eine befriedigende Antwort zu geben. Einstmals hatte sich Israel schwer versündigt, so sagen sie uns. Unsere Väter hatten ein goldenes Kalb angebetet, und beinahe wäre um dieser schweren Verirrung willen das ganze Volk vernichtet worden. Da hat Gott am zehnten Tischri Israel diese große Sünde verziehen und das Volk in Gnaden wieder aufgenommen. Darum hat Gott gerade diesen Tag als Tag der Versöhnung für alle Zeiten bestimmt.

Dieses Wort unserer Weisen ist geeignet, uns zum Nachdenken anzuregen. Sagen sie doch, es gebe kein Geschlecht, das ganz frei wäre von der Sünde des goldenen Kalbes. Unser Geschlecht macht von dieser allgemeinen Regel sicherlich keine Ausnahme. Hat doch ein bekannter Antisemit den Kindern Israel's einmal im deutschen Parlament vorgeworfen: „Sie umtanzen noch heute das goldene Kalb, wie ihre Väter es in der Wüste getan haben.“ Wohl ist dieser Vorwurf in seiner Allgemeinheit unbegründet, wohl trifft er, dort wo er richtig ist, nicht nur die Kinder Israel's, sondern ebenso die nichtjüdischen Kreise. Aber sollten wir Kinder Israel's nicht ein Reich von Priestern, für alle Völker ein Beispiel der Sittenreinheit und ein Vorbild der Unbestechlichkeit des Charakters sein?

Spielt das Gold nicht eine allzugrosse Rolle in unserm   Leben?   Beeinflusst   es   nicht   allzu sehr   schon die Erziehung unserer Kinder? Wir halten sie an, zu lernen, was nützlich ist, was ihnen einmal Geld und Gut einbringen wird. Gibt es denn nur ein einziges Ziel der Erziehung, sie zu Menschen heranzubilden, die einmal großen Reichtum sich erwerben können? Und wo bleiben die Ideale, die Bildung des Charakters und des Gemütes, die Kenntnisse der Thora und ihrer Gebote, die Erziehung zur jüdischen Pflichttreue? Tritt all das nicht weit, weit zurück, während es die Hauptsache, das Wichtigste sein sollte? Ist das Gold nicht der Moloch, dem wir Shabbath und Festtage, die Vorschriften und Gesetze unserer heiligen Religion, und damit unser Teuerstes und Bestes willig, ach, nur allzu willig, opfern? O, dass wir an diesem Tage, der uns an die Sünden unserer Väter mahnt, auch der eigenen gleichartigen Verirrung gedenken möchten! Fort mit der Überschätzung und Anbetung des Goldes! Du kannst mit Gold nicht das wahre Glück erkaufen, nicht hohes Alter und Gesundheit, nicht gute Kinder und ein glückliches Familienleben. All das kann dir nur der Ewige, dein Gott gewähren. Ihm wollen wir dienen und nicht dem Golde „Wir wollen nicht mehr als Gott ansprechen das Werk unserer Hände.“ Wir wollen nicht mehr anbeten den irdischen Erfolg, nicht mehr vergöttern das, was vergänglich ist!

Wollen wir nicht auch bei der Erinnerung an die Sünde des goldenen Kalbes, die der Versöhnungstag mit sich bringt, Moses, unseres Lehrers, und seines Verhaltens gedenken? Als er den Götzendienst im jüdischen Lager sah, zerbrach er die Tafeln. Warum tat er das? Der Midrasch sagt es uns. Er sah, dass die Buchstaben sich aus dem Stein emporhoben in die Lüfte, da zerbrach er den Stein. Liegt hierin nicht ein tiefer Gedanke ? Der Stein war rohe Materie.   Nur die Buchstaben waren es, die ihm Wert verliehen. Schwanden die Buchstaben, so musste der Stein zerbrochen werden. Was nützt ein Körper ohne Geist, ein Leib ohne Seele! Als Moses den Götzendienst im Lager sah, da erkannte er, dass aus dem israelitischen Volkskörper der Geist des Volkes Israel's entflohen war. Da zerbrach er die Tafeln, um dem von Gott abgefallenen Israel zu zeigen, dass es, gleich den Tafeln eines nicht befolgten Gesetzes, völlig wertlos sei.

Auch wir erleben es heute, dass aus den Tafeln der jüdischen Pflichttreue, die unsere Väter so sorgsam gehütet haben, ein Gebot nach dem andern sich heraushebt und zu verschwinden droht. Muss nicht bei einem Blick auf das jüdische Leben der Gegenwart Angst und Sorge um die Zukunft unseres Volkes uns erfassen ? Kann es denn ein Volk Israel ohne Thora geben? Wenn Shabbath und Festtage, Reinheits- und Speisegesetze und die andern spezifisch jüdischen Pflichten nicht mehr gehalten werden, was bleibt noch übrig? Wir sind der Stein, in den Gott seine Gebote gegraben. Nur diese Gebote haben uns erhalten. Entweicht der Geist des Volkes Iarael's aus unserer Mitte, sind wir das Gottesvolk nicht mehr, das sich durch die Thora, die es trägt, unterscheidet von allen Völkern, assimilieren wir uns den Nationen der Welt und werden wir gleich ihnen, so sind wir ein Gefäß ohne göttlichen Inhalt, ein Körper ohne Geist, welcher nicht bestehen kann und der Zerstörung anheim fallen muss gleich jenen Tafeln, die Moses zerbrochen.

Aber auch einen tröstlichen Gedanken legt uns die Erzählung vom goldenen Kalbe nahe. Moses bittet und fleht für Israel und ruft dabei Gott an als den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Auf den ersten Blick erscheint die Berufung auf die Stammväter unseres Volkes völlig unangebracht und unpassend in jener Stunde, da Israel sich   so   schwer  versündigt   hat.    Muss   die   Schuld   der Kinder nicht noch dunkler und schwärzer sich abheben von dem hellen Hintergrund der großen Ahnen, deren wir uns rühmen? Jene haben ihr Leben für Gott geopfert, und die Enkel haben Ihn vergessen und verraten! Dennoch hat Moses Recht mit seiner Berufung auf Abraham, Isaak und Jakob. Siehe, so spricht er damit zu Gott, von solch edlen Männern stammen die Kinder Israel ab, ein guter Kern liegt in ihnen; wohl haben sie gesündigt, aber sie werden wieder zu ihrer Pflicht, sie werden wieder zu Gott zurückkehren. Hierin liegt ein Trost für uns. Wir Kinder Israel's blicken auf eine Geschichte von über drei Jahrtausenden zurück. Welche Glaubenshelden haben wir hervorgebracht! Wie viele Tausende unserer frommen Väter und Mütter sind eines qualvollen Todes gestorben für unsere Emuno! Wie viele Tausende haben in den Zeiten der Verfolgung Haus und Hof verlassen und sind einer Ungewissen Zukunft entgegengegangen, um der Thora treu zu bleiben! Und nach einer solchen Ruhmesgeschichte ohnegleichen soll das Volk Israel's in Selbstauflösung verschwinden, nur weil die Emanzipation uns in eine Reihe mit den andern Völkern gestellt hat, weil wir, ausdauernd im Unglück, das Glück nicht zu ertragen vermögen, weil wir im Reichtum und in der Freiheit uns selbst untreu werden? Nein, das kann, das wird nicht sein. Der gute Kern in uns, das Verdienst der frommen Väter, wird uns die Kraft geben, auch die jetzige schwere Krise, in der das Volk Israel's lebt, siegreich zu überstehen und zurückzukehren zu unsern jüdischen Pflichten.

„Euch   zu   reinigen!“

Der Unterschied zwischen der Lebensauffassung, die in früheren Tagen herrschte, und derjenigen, die in der modernen Gegenwart zutage tritt, zeigt sich wohl nirgends so deutlich, wie bei der Bestimmung des Begriffs der  Sünde.   Hat es  doch der große und  übermächtige Einfluss des Modephilosophen unserer Zeit dahin gebracht, dass in vielen Köpfen sich eine vollkommene Umwertung  aller Werte vollzogen hat. Früher galt Unsittlichkeit  als schimpflich, hingegen galt als maßgebend und wurde als sittliche Forderung das Wort unserer Heiligen Thora  empfunden „wandelt nicht eurem Herzen und euren Augen nach,“ beherrschet,  bezwinget eure sinnlichen Triebe! Heute glaubt schon der Jüngling, der kaum die Schule verlassen hat, es sei sein Recht, „sich auszuleben“, er brauche seinen Begierden und Sinnen keine Zügel aufzuerlegen. Früher galten Grausamkeit, Egoismus, Hartherzigkeit als hässliche  Eigenschaften, deren man sich schämen müsse, während  sie heute von manchen Seiten als Zeichen eines höheren  Kulturstandes gepriesen und andrerseits Nachsicht, Barmherzigkeit und Milde als Schwäche bezeichnet und  herabsetzend als Herdenmoral charakterisiert werden.  Ist für uns Kinder Israel's am heutigen Tage ein Zweifel möglich,  welche Auffassung die richtige ist? Bäumt sich heute  nicht alles in uns auf gegen die Anschauung der Materialisten, der Mensch sei ein „Raubtier“, geboren zum Genuss  des Augenblicks? Lebt in uns nicht heute mächtig  die Überzeugung „fürwahr, ein Geist lebt  in uns Menschen,“ und ein Hauch von Gott gibt uns den Verstand. Wahrlich, heute kann es kein Schwanken und kein Zweifeln in uns geben. Wir sind ja nicht  Nachkommen des Esau, dessen Lebensprinzip auf die einfachste Formel zu bringen ist: „er  aß und trank, stand auf und ging davon,“ dem der  Genuss das Höchste war und der die idealen Güter verachtete; wir fühlen uns heute als Nachkommen des Jakob, und der heutige Tag, an dem wir erschauernd der Ewigkeit gedenken, will uns vorbereiten für den großen Gerichtstag, an welchem als Sünde gilt, was Gott in   seiner  Thora   als   Sünde   bezeichnet   hat.

Ja, was Gott verboten hat, das ist und bleibt Sünde. Wohl hat es in unserer Zeit Rabbiner gegeben, die „eine Umwertung der Werte“ auch innerhalb des Volke's Israel's vornehmen wollten. Mit keckem Wagemut haben sie sich über die heiligsten Vorschriften unserer Thora hinweggesetzt. Sie haben erlaubt, was Gott verboten hat. Sie gestatten, was die Thora mit schwerer Strafe bedroht. Es wäre lächerlich, wenn es nicht so überaus traurig wäre. Will der Mensch Gott meistern, das Geschöpf sich erheben über seinen Schöpfer? Mit dem Psalmisten sprechen wir: „Für ewig besteht dein Wort im Himmel.“ Die Zeiten und was aus ihnen entstanden ist, sind dem Wechsel und der Veränderung unterworfen. Gottes Wesen aber, über Zeit und Raum erhaben, ist ewig, und ebenso ewig und unveränderlich  ist  seine  Thora.

Von einem Lehrer unseres Volkes wird erzählt, dass er zu seinen Schülern gesagt hat: „Gott schütze euch vor etwas, was ärger ist als die Sünde.“ „Was ist das ?“ fragten sie. „Der Hochmut,“ antwortete er ihnen. Ist es nicht, als ob dieses Wort geprägt wäre für unsere Zeit? Nicht dass wir sündigen, ist das Schlimmste, viel schlimmer ist der Hochmut, mit dem wir Gott und sein Gesetz entthronen, uns hinwegsetzen über die Thora und ihre ewig heiligen Vorschriften, indem wir uns das Richteramt anmaßen, darüber zu urteilen, was Sünde ist und was nicht.

Möchte doch der Versöhnungstag mit dieser Verirrung ein Ende machen. Möchten wir uns doch zu der Erkenntnis durchringen  „auf deine Erkenntnis verlass dich nicht,“ sie ist schwach und unzulänglich. Als Kind Israel's bist du heute ins Gotteshaus gekommen, wie deine Väter seit Jahrtausenden es getan haben. Dich lockt die Verheißung, dass Gott dich heute sühnen wird für alle deine Sünden. Gott hält sein Versprechen, aber eine Vorbedingung musst du erfüllen: Du musst deine Sünden erkennen und bereuen, einsehen, dass es Sünde ist, wenn du dir dein eigenes Gesetz machst, statt des ewig gültigen der Thora, dass es Sünde ist, wenn du Gebote der Thora leichtfertig übertrittst, statt sie mit Liebe und Treue auf dich zu nehmen. Wie oft sprechen wir es an diesem Tage, beherzigen wir es endlich, „wir sind nicht so keck und dreist, vor Dir zu sprechen: Ewiger unser Gott und Gott unserer Väter, wir haben nicht gesündigt; vielmehr erkennen wir, dass wir durch Abkehr von der Thora und ihren Satzungen uns gegen Gott und gegen unsere Bestimmung verfehlt haben.“

„Von all euern Sünden sollt ihr vor  Gott rein werden!“

Vor Menschen kannst du dich verstellen, vor Menschen eine Maske tragen. Vor Gott ist das unmöglich, denn Gott sieht in dein Herz. Sein Siegel ist die Wahrheit. Wie werden wir bestehen vor Ihm? Wie viele gibt es, die anders sprechen als sie denken, die nach de  bekannten Wort die Sprache benutzen, um ihre Gedanken zu verbergen. Scheinen nicht viele zu glauben, es stünde in der Thora statt vom Wort der Lüge, vom Wort der Wahrheit halte dich fern? Die Inschrift auf dem Orakel von Delphi: „Erkenne dich selbst“ ist die Forderung unseres Festes. Heute fallen alle Hüllen, heute hört jede Verstellung auf. Heute dürfen wir unser Tun nicht beschönigen und uns nicht selbstgerecht brüsten.   Heute wollen wir erkennen, dass wir Sünder sind, denn heute stehen wir vor Gott, unserm unbestechlichen Richter, und vor Ihm wollen wir rein werden.

Ja, vor Gott sollen wir rein werden! Das aber wollen die meisten Besucher unserer Gotteshäuser nicht. Sie wollen bleiben, wie sie sind. Jede gründliche, mit Opfern verbundene Änderung ihres Lebenswandels liegt vollkommen außerhalb ihrer Absichten. Wie von jenem Manne erzählt wird, der in der guten alten Zeit, in der diese schöne Sitte herrschte, sich mit seinem Feinde am Erew Jom Kippur versöhnte, dann aber seine wahre Gesinnung verriet, indem er die bedeutungsvollen Worte sprach, „aber nach Jom Kippur!“, so betet und fastet auch heute der Israelite und sucht Versöhnung mit seinem Gotte, denkt jedoch bei sich: aber nach Jom Kippur bin ich der gleiche, der ich vorher gewesen. Sinkt bei dieser Auffassung nicht der Jom Kippur zu einer Art Ablass herab, mit dem man im Mittelalter Vergebung seiner Sünden zu erlangen hoffte? Freilich, das wäre bequem, wenn wir das ganze Jahr hindurch sündigen dürften, und dann käme der Jom Kippur und brächte uns automatisch die Versöhnung, und durch das Fasten und Beten während eines einzigen Tages würden die Sünden eines ganzen Jahres ausgelöscht, als wären sie nie gewesen! Nein, das ist der Sinn und Zweck des Versöhnungstages nie und nimmer, „Der Versöhnungstag kann nur in Verbindung mit dem innigen Streben, zu Gott zurückzukehren, die Sühne bewirken.“ Wohl bringt er uns die Versöhnung, deren wir so oft bedürfen, aber wir müssen unsere Sünden erkennen und bereuen und Besserung geloben: Vor Gott sollen wir rein werden, bessere Menschen und   Israeliten   sollen  wir  werden.

Bessere Menschen: hilfreich, edel und gut sollen wir sein, liebevoll gegen diejenigen, die uns im Leben nahe stehen, gerecht und voll warmen Gefühls und voller Hilfsbereitschaft gegen die Armen und Bedrückten, versöhnlich  auch gegen  diejenigen,  die uns wehe getan.

Und bessere Israeliten! Bedrückt der Gedanke an die Zukunft Israels nicht das Herz jedes Israeliten, der mit Innigkeit an dem Glauben seiner Väter hängt? Es mehrt sich der Abfall von der jüdischen Religion. Aber sind an dem Abfall der Kinder nicht die Eltern schuld, die ihre Kinder in nichtjüdischen Pensionaten erziehen lassen, die sie lehren, die Gebote der jüdischen Religion mit Gleichgültigkeit zu betrachten und gering zu schätzen? Ziehen die Kinder nicht eigentlich nur den Schluss aus der unjüdischen Erziehung und dem unjüdischen Vorbild, das ihnen die Eltern gegeben haben?

Lassen wir uns doch von der Natur belehren! Solange die Zweige und Blätter kraft- und saftvoll mit dem Baume verbunden sind, bleiben sie am Stamme, auch wenn der Sturm an ihnen rüttelt. Wenn aber die Zweige verdorren, die Blätter verwelken und nur noch lose an ihrem Ursprung hängen, dann fallen sie beim kleinsten Windstoss herunter. Erziehen wir unsere Kinder, dass sie fest im Volke Israel's wurzeln! Jedes Gebot, das wir sie üben lehren, jedes Verbot, das sie zu meiden gewohnt sind, jedes Gebet, das sie regelmäßig sprechen, verbindet und verknüpft sie mit dem Volke Israel's. Frommere Israeliten wollen wir schon um unserer Kinder willen sein, damit sie einmal gute Israeliten werden und den Namen unserer Eltern, mit dem sie genannt werden, dereinst in Ehren inmitten   des   Volke's Israel's tragen!

Ein sinniges Märchen erzählt einer unserer Brüder aus dem Osten: Ein frommer Beter war einst in einem Gotteshause eingeschlafen und erwachte erst in der Geisterstunde,   in   der   auch   die  leblosen   Dinge   Leben und Sprache erhalten. Da sah er in einem Gebetpult, das sich geöffnet hatte, einen Tallis vor sich, und der Tallis weinte und lachte. Warum weinst du, o Tallis, fragte er. Ach, sprach der Tallis, ich bin dazu da, den Israeliten zu schmücken, wenn er sein Gebet vor Gott ergießt, aber mein Besitzer betet gar nicht, er ist reich und glaubt, der Gebete nicht zu bedürfen. So bin ich nicht imstande, meine schöne Bestimmung zu erfüllen, ich fühle, dass ich nutzlos bin, und darüber weine ich. Und warum lachst du, fragte er weiter. Nun, sprach der Tallis, bald vielleicht kommt die Zeit, da mein Besitzer die letzte Reise antritt, von der es keine Rückkehr mehr gibt. Dann wird er in mich allein eingehüllt und außer den Sterbekleidern nimmt er nichts mit als mich, mich, den Tallis, den er jetzt so vernachlässigt. Dann komme ich zu Ehren, und darüber freue ich mich.

Gibt uns dieses Gleichnis nicht zu denken? Wie hasten wir durch das Leben, es locken uns Geld und Gut, Zerstreuungen und Vergnügungen. Wir haben keine Zeit für Werke der Frömmigkeit und für gute Taten, die doch allein uns einst begleiten werden in eine bessere Welt!

Den Versöhnungstag schickt uns Gott als einen Boten des Heils. „An diesem Tage wird Er euch sühnen, euch zu reinigen; von all euern Sünden sollt ihr vor Gott rein werden.“

Möchte dieser Tag an uns allen zum Segen werden, indem wir alle an ihm den Vorsatz fassen, gute Menschen und gute Israeliten zu werden. Der Allgütige aber erhöre unsere Gebete und die Gebete von ganz Israel und schreibe uns ein und besiegle uns in dem Buch des glücklichen und segensreichen Lebens.